Aufmerksamkeit

Eine Frau ist 24 Jahre lang die Gefangene Ihres Vaters, ein Mädchen bleibt acht Jahre in den Händen eines unscheinbaren Mannes, ein Arbeitsloser steht unbeobachtet an der Ecke des Einkaufszentrums und versucht ein Magazin zu verkaufen. Die Nachbarin im unteren Stock - niemand hat sie je so genau gesehen, scheint es. Das schiefe Gesicht im Tram - wir meiden es.
Wir sehen nicht hin. Und das mit System. Wir gehen sogar so weit, dass wir das taktvoll nennen und es auch noch glauben.
Wir sehen nicht hin. Aber wir glotzen, wenn ein Unfall geschehen ist. Wir sind Passanten, wenn eine Frau belästigt wird, und wir versuchen, so sehr weg zu sehen, dass wir den Grund dafür schon gar nicht mehr erkennen und damit auch weniger ein schlechtes Gefühl dabei haben.
Aber indem wir diese Technid des Wegsehens so sehr verinnerlicht haben, sehen wir gar nichts mehr. Die Tulpen vor dem Fenster beginnen ohne uns zu blühen, die Ritzen im Mauerwerk werden von kleinsten Pflanzen geweitet, nie würden wir es beachten. Im Rinnstein schwimmt ein Papierfötzelchen, als wär's ein Mississippi-Dampfer. Im Gulli rauscht das Abwasser, als stünde man an einem Gebirgsbach. Seit Wochen haben unsere Füsse keine Erde berührt. Was sage ich. Seit Monaten. Wir leben, weil wir atmen. Nicht weil wir einatmen.
Die Sonne fühlen wir, weil wir geblendet werden, womöglich beim Autofahren. Es ist, als sässen wir ständig in einer Kiste, haben immer einen Zaun um uns, eine Mauer, Grenzen, bis hierher und nicht weiter.
Aufmerksam sind wir, wenn es darum geht, bestätigt zu sehen, was wir eh zu wissen glauben. Das braucht viel weniger Energie als die Beachtung des Neuen, Unvertrauten, unsicher machenden Phänomens.
Wissen Sie noch, wie das war, als Kind? Wie wenig es brauchte, dass man seine Geschichte zu spinnen begann, ja dass man sie lebte, in sie versank, zum Helden wurde. Was haben wir weniges gebraucht, um unsere Phantasie in Gang zu setzen, und nichts war uns zu gross, es nicht mindestens zu denken. Und unsere Augen waren geöffnet, die Lider nicht schwer, wir wurden nur müde, weil wir zu viel sahen, ganz bestimmt nicht, weil uns alles grau erschien.
Und wir, als Kind, haben hingesehen, im Tram. Mit offenem Mund. Wir ätten vielleicht gar bei der Frau unten durchs Schlüsselloch geschaut, und durch des Nachbars Zaun gesperbert. Kindern entgeht nichts. Am wenigsten unsere fehlende Aufmerksamkeit.

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Ein richtig guter Text!
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