Freitag, 13. April 2007

Prekariat

Zu einer intellektuell übersättigten Gesellschaft gehören auch blubbernde und im Schlick der fabulösen Schlagwortbildung stecken bleibende neue Wortschöpfungen, beliebt für die Kategorie "Unwort des Jahres". Ob das Prekariat dazu gehört? Keine Ahnung.
Junge Schlagworte haben den Nachteil, dass sie sich viel schneller verbreiten, als dass die Leute wirklich wissen, von was die Rede ist. So geht es mir jetzt auch gerade.
Das Prekariat folgt auf das Proletariat? Nicht nur Arbeiter, sondern durchaus auch Angestellte, mit oder ohne Job, deren materielles Auskommen in eher prekärer Verfassung ist…

Ich glaube, solche Schlagworte erfindet eine Gesellschaft, die jenseits aller Ideologien in der Welt der reinen Sachzwänge angekommen ist. Ein Schlagwort wie ein Beweis für den Totschlag des Kommunismus. Auch wenn Du Probleme hast, deine Kinder durchzufüttern, so ist das allenfalls prekär und ich ordne dich auch gerne ein, aber nicht wirklich in einer Klasse, nein, sondern in einer unverbindlicher bleibenden Schnittmenge verschiedener A…-Karten-BesitzerInnen, mit denen wir, die Gesellschaft, so halt ein paar Probleme haben, möge auch lieber nicht diskutiert werden, wer das Problem verursacht haben könnte…

Links und rechts vom kapitalen Weg fällt bei der Globalisierung halt ein wenig Müll an. Unschön, aber objektivierbar. Alle sind mit dem Tellerwäschersyndrom geimpft – und wenn nicht, dann sollen sie es bleiben lassen. Der Staat allerdings soll die Finger davon lassen, denn der Staat braucht unser Geld, auf jeden Fall den Teil, den wir nicht in Sicherheit bringen können.

Prekariat – prekär ist ein wunderbar sachliches und an sich noch wertfreies Wort. Die Schuldzuweisung liegt noch nicht darin. Sie muss noch hinzu gedacht werden. Was bitte ist am Prekariat prekär? Und für wen? Wer oder was ist für wen eine Schande? Wer fühlt sich warum verantwortlich? Welche Art Investition geht denn überhaupt vom Staat aus? Wer reguliert, was ich gar nicht reguliert haben will, "wenn ich mir nichts vorzuwerfen habe und meine Steuern zahle". Und wer könnte das besser beurteilen als ich selbst?

Wunschidentität

Wäre ich doch der oder jener! Wir machen uns so gerne Bilder von uns selbst – oder besser davon, wie uns andere sehen sollen. Dabei beschäftigt man sich eigentlich mit dem Wirken, dem Ansehen, der Stellung einer Person. Was überhaupt nichts mit der Identität zu tun hat.
Wenn es doch nur unser aller innigster Wunsch wäre, uns selbst sein zu können. DAS wäre nämlich unser Glück.

Vielleicht gibt es für das Stichwort bald einen neuen Begriff: Avatar. Schaffe Dir Dein Avatar, Deine Identität in Second Life, nur so zum Beispiel. Virtuell können wir leichter als jemals zuvor irgendwer sein, und die – scheinbaren – Vernetzungen gaukeln Interaktionen vor, die am Ende gar noch für Beziehungen gehalten werden.

Interessant ist auch, dass wir uns immer wieder an anderen orientieren und uns Vorstellungen davon machen, wie sich das Leben anfühlen muss, das uns da anlacht. Wir alle wären wohl ziemlich erstaunt und überrascht, wie sich nur schon unsere Nachbarn im Detail unser Leben vorstellen, und nicht selten könnten wir darüber wohl nur den Kopf schütteln oder im besseren Fall laut darüber lachen.

Warum wollen wir immer das Gras jenseits des Gartenzauns? Da ist unser aller Leben von einem Wohlstand geprägt, den in dieser Form keine Generation vor uns kannte, und mit was beschäftigen wir uns? Mit der Vor-Sorge vor (nein für, hoffentlich) der unsicheren Zukunft und mit dem Leben links von uns, das bestimmt angenehmer ist. Wir wünschen uns im Grunde immer den Schein, einen Glanz, und kennen dabei in unserem eigenen individuellen Paradies vor allem die Grautöne. Oder viel zu oft. Sonst kämen wir gar nicht auf solche Weitblicke, die im Grunde gar keine Blicke sind.

Wir leben alle im ständigen Vergleich. Und die Massstäbe für dieses Vergleichen gibt uns die Gesellschaft mit ihren Statussymbolen vor. Noch nie hätten so viele Menschen leichten Herzens aus dem Hamsterrad springen können, aber stattdessen strampeln sie weiter in der Masse und freuen sich allenfalls, dass sie im Rad zwei Zentimeter weiter vorn sind mit den Schnauzhaaren… Nur, was bekommen die schon zu fühlen?

Mein Wunsch wäre, meine Identität zu finden. Mich zu kennen ist das erste Ziel. Überhaupt Person werden, Persönlichkeit, Ich und nicht nur Ego. Was für eine verlockende und lohnende Aufgabe. Päng – schon wieder eine leistungsorientierte Aussage. Oder doch nicht? Aufgabe? Auf-Gabe. Aufgeben. Wir könnten so Vieles aufgeben, ohne dass es wirklich einer Niederlage gleich käme…
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