Dienstag, 1. Mai 2007

Zügellosigkeit

Wenn die Zügel los sind, galoppieren die Leidenschaften. Es ist ein Rausch, wenn urwüchsige Kraft sich bahn bricht und man plötzlich glaubt, die Welt erobern zu können - oder sich um sie foutieren zu können.
Nur ist es so ein Ding mit dieser Kraft: Das kräftigste Pferd wird müde und verwandelt seinen Galopp irgendwann in einen Trab. Und wir sind keine Wildpferde, haben den Umgang mit unseren Kräften nie in der Natur gelernt, und Lust und Konsum sind schlechte Ersatzoasen, um ein Joch abzuwerfen, das wir Vernunft nennen, während wir darin nur den Ballast und die Verhinderung unserer Entfaltung sehen, statt die Leitlinie, die Orientierung schenken kann.

Zügellosigkeit IST orientierungslos, prescht nur aus sich selbst hervor und braucht die Raserei, um sich nicht sichtbar vor den Kopf zu stossen. Wehe, diese Raserei läuft sich tot, es gibt keinen pelzigeren Nachgeschmack auf der Zunge als das Erwachen aus dem schönen bösen Traum. Und es ist eine Demütigung, dass es da kein Joch und keine Zügel mehr braucht, um uns erledigt am Boden liegen zu sehen...

Auch der Schlaf ist dann ein anderer. Er birgt andere Träume als wenn er von der Arbeit Erholung bieten soll, oder von der friedlichen, mit sich Einklang suchenden Kontemplation freier Zeit.

Wer die Zügel nicht fortwirft, sondern sie aufhängt, bevor er losprescht in die Freiheit, wer ein gutes Verhältnis zu den Lehren hat, die das Leben Notwendigkeiten nennt, der braucht keine Verschwendung an Kraft, um Freiheit zu fühlen. Er zügelt vielleicht gar seine Leidenschaften, will nicht das Pferd sein, das die Zügel fortwirft, sondern zum Kutscher vordringen, der sie lenkt.

Selbstzügelung bedeutet Lenkung, und wenn diese Kutsche dann Fahrt aufnimmt, ist der Lohn eine andere Form von Rausch des Fortkommens, der Geschwindigkeit, einer gelenkten Kraft, die an einem Ziel ankommt und einen Rhythmus kennt von Tempo, Verausgabung, und Ruhe, Erholung.

Was, wenn wir das Reisen wirklich lernen und so unseren nächsten Tag begehen?

Ich gehe jetzt mal die Zügel fetten, die ich so kenne und mit denen ich ganz gut gefahren bin bisher...

Bergwanderung

Sie sind Teil des Horizonts, des Panoramas, von Wolken verhangen oder glänzend im Sonnenlicht. Staffage, schöne Zier. Aber Städter wie ich finden selten die Energie, sich in die Berge zu begeben. Dabei ist eine Bergwanderung nicht einfach mühsam, anstrengend. Sie ist in jedem Fall vor allem eine Konzentration auf eine Unternehmung, fordert eine Bündelung von Energien und setzt Adrenalin frei - und das ohne jegliche Kitzelung von Gefahr.
Denn das Tolle am Wandern in den Bergen ist, dass diese keine Zähne zeigen müssen, um ihre gewaltige Kraft zu zeigen. Wenn Du zwischen Bergflanken hindurch läufst, Dich vielleicht umkehrst und den Weg zurück blickst, auf dem Du gekommen bist, wenn Du im regelmässigen Tritt Höhe gewinnst und dabei den Blick auf den Weg gerichtet hältst und all die Moose siehst, die zwischen Steinfurchen hindurch drücken, dann siehst Du uns spürst Du die Macht der Natur und die Schöpfungskraft, die diese Dinge geformt hat und weiter formt.
Ich glaube, es ist vor allem das Element der Zeit, das ich dabei ganz anders erlebe, das mich am meisten fasziniert: Was sich über Jahrtausende und Jahrmillionen gebildet hat und weiter verändert, wird von mir während einem Wimpernschlag begleitet, und für eine Millionstelsekunde dieses Wimpernschlags bin ich nun genau in diesem Bewusstsein inmitten dieser gewaltigen Ewigkeit, die in sich wiederum nur ein Wimpernschlag in einem noch grösseren Kontext ist.
Und ich bin unterwegs mit einem Freund: Dieses Wandern ist mir das Liebste. Denn dieser Millionstel-Wimpernschlag, der in der Bewusstwerdung seiner Winzigkeit auch einzigartig ist, ich möchte ihn mit einem Freund erleben und diesen Moment nicht mit irgendwem teilen.
So wie wir uns für diesen Tag verabredet haben, so wie wir uns die Zeit reserviert haben, um der Zeit zu begegnen, so trug und gemeinsame Zeit hierher und wird uns auch wieder hinunter tragen. Und weiter. Wir werden immer wieder ein Stück miteinander gehen und uns erzählen, was wir zuvor gesehen haben und was wir hoffen, noch zu entdecken oder was wir suchen, vermissen und ersehnen.
Und wir können auch einfach still werden und uns irgendwo auf einen solchen Moosflecken setzen, der sich nicht grämt, just für unseren Hintern Jahrzehnte gewachsen zu sein...
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Ein richtig guter Text!
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